Siedlungsgeschichte

Die nachfolgenden Ausführungen werden durch zwei Aufsätze aktualisiert und fortgeschrieben, die im Heimatboten Schwalmtal 2022 und 2023 erschienen sind:

HB 22 Das Waldhufendorf Lüttelforst

HB 23 Plätze in Lüttelforst

„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit. Sollte man ihn nicht unergründlich nennen?“
(Thomas Mann)

Weite Teile des heutigen Ortsteils Lüttelforst gehen auf den sog. „Landesausbau“ im Hochmittelalter zurück. So nennen Historiker eine Expansions- und Wachstumsphase im 13. Jhdt., in deren Verlauf die Land- und Subsistenzwirtschaft die Schalm-Nette Region als Kulturlandschaft nachhaltig prägte. Die Straßendörfer sind heute überbaute oder zersiedelte Reste eines ehemals prominenten Siedlungsbildes: Geographen bezeichnen die Bauernhofreihen, in  Abgrenzung z. B. zu Haufendörfern um einen zentralen Platz,  als Hufen- oder  Waldhufendörfer.  Hufe sind auch ein altes, allerdings nicht genormtes Fächenmaß.  Aus historischer Perspektive wird mit der Hufenverwaltung eine Grundbesitzreform in Form der Bodenleihe  eingeleitet, in deren bis in das 19.Jhdt. reichenden Verlauf sich die Bauernschaft von Leibeigenschaft und Frondienst befreite – im Unterschied zu den deutschen Ostgebieten mit ihren zentralen Herrenhöfen. Die Hufe waren abgabepflichtig (vgl. den Flurnamen  „Halfenfeld“ in Lüttelforst), lagen abseits des  Herrenlandes und wurden in den Wald gerodet. Viele Ortsnamen wie das benachbarte Unge-rath, Dilk-rath oder Rickel-rath bezeugen noch diese Gründungsmaßnahmen. Die hiesige Region, die sich vor der Etablierung territorialer Mächte, wie z.B. Jülich-Berg, wohl ursprüglich in einer Grundherrschaft befand, war ein Zentrum solcher Ausbauten. In Lüttelforst ist bis heute das Siedlungsbild dank des Bodenreliefs direkt am Hang des Schwalmtals besser als anderswo erhalten. Das macht die Siedlung für den Tourismus sowie für den Geographieunterticht interessant. Obwohl vom Landesverband Rheinland seit 1994 als Denkmalbereichszone ausgewiesen,  ist das Ensemble in Folge geplanter Erweiterung des Abbaus von Kies und Ton aktuell gefährdet!

Die Rodung/
Namens- kunde/
Anfänge der
Besiedelung

 

Nach den Römern war der o.g. Landesausbau die 2. Rodungswelle, woran noch allerorts Orts-, Flur- oder Hofnamen erinnern, die z. B. auf -rath, -rode enden. Auch der Name Lüttelforst zählt zu dieser Wald- und Rodungsgruppe der Ortsnamen. Neben „lütt“ von niederfränkisch „klein“ (vgl. auch niederdt. „lütte“ od. „lütj(g)e“ für „Kleiner“) ist die Namensableitung von  -forst oder -vorst nach forestris aus lat. foris für „draußen, außerhalb“ ein Hinweis: Für die Römer war diese Bedeutung wohl synonym mit Wald, auch silva. Forst wurde als Lehnwort übernommen, bei dem aber die Nebenbedeutung von außerhalb, jenseits der Zivilisation, verschwand. Und „lüttel“ steht dann in Beziehung auf die einst eher große bewaldete Höhe der Hardt („Up der Hardt“) in östlicher Nachbarschaft. Heute ist dort kein Wald mehr, aber die Durchgangsstraße erinnert als „Vorster Strasse“ noch daran. Unser Ortsname Lüttelforst zeigt also die Lage an und erinnert zudem an die  Umstände bei der Gründung im Zusammenhang grundherrlicher Rodungsmaßnahmen. Wann genau mit dieser tatsächlich begonnen wurde, ist derzeit nicht zu datieren! Archäologische Grabungen sind in Lüttelforst bislang m. W. nicht durchgeführt worden.  Vielleicht entstand in der Schwalmniederung zunächst ein „Vorwerk“ (altes dt. Wort nach Adelung für „von Hof u. Salland abgesondertes Land oder Befestigung“; vgl. auch den Ortsnamen Neuwerk bei MG)  fränkischer Pioniere.

Tatsächlich aber war nach der Rodungswelle im Hochmittelalter unsere Siedelung  abgelegen genug, um den o.g. Namen zu motivieren. Der räumliche Abstand (ca. 7Km) vom Land der Grundherren von Amern war wohl entscheidend für die frühe Ablösung und Erhebung zur einer selbstständigen Pfarre und die weiteren Dorfgeschichte; siehe hierzu auch die Rede von Dr. Wolgang Löhr: „Gedanken zur Geschichte Lüttelforsts“

Landes-
ausbau im
Mittelalter

 

Möglich auch, dass sich die o.g. namensgebende grundherrliche Maßnahme zunächst auf einen Kern oder (Lehns-)Hof beschränkte. Verbesserte Anbaumethoden sowie die Überlassung von Land auf kargen Terassenböden waren für den weiteren Ausbau sicher ausschlaggebend, die aber nicht in gleicher Weise wie die dt. Ostgebiete oder die Besitzungen in Übersee mit einem „Schlag“ wuchsen. Wahrscheinlicher erscheint, dass sich einzelne Einödhöfe in der Schwalmniederung in Reihe ansiedelten.

Waldhufen

 
Auszug aus frz. Tranchotkarte um 1805
Auszug aus frz. Tranchotkarte um 1805

Diese sog. Hufe erstreckten sich als streifenförmige Parzellen von der Schwalm aus nach N bis NE über die Terassenplatte in Richtung Ungerath (Rodungsname ), Schomm bis zum Kranenbachtal auf eine Länge von mind. ca. 700m. Dabei wurde nach fränkischem Siedlungsmuster in der Nähe zur Tallage gesiedelt. Mit den Hofstellen südlich der steilen Kante der jüngeren Hauptterrasse von Rhein und Maas als natürlicher Leitlinie und Achse enstand mit der Zeit der klassische Typ eines einzeiligen Reihen- oder Waldhufendorfs; nicht als Dorfverband, sondern als Aufreihung von Einzelhöfen, wie es heute noch im Ortsteil Lousberg gut zu erkennen ist. Damit wurden die Vorteile einer nachbarschaftlichen Ansiedlung mit dem eines geschlossenen, hofanschließenden Besitzes verbunden, wobei keine großen Transportwege zwischen Hof und Feld aufkamen. Die alten Verbindungswege, die die Terrassenkante teilweise als Hohlwege schneiden, sind in Lüttelforst trotz Ton- und Kiesabbau in neuerer Zeit z. Teil erhalten!

Hufe
(Forts.)

 

Die  auf quartären, nacheiszeitlichen Flussschüttungen der Schwalm gelegenen Höfe betrieben in den Feuchtniederungen Weidewirtschaft; an der steilen Terrassenkante blieben Waldstreifen oder auch Obstbongerte und der eigentliche Feldbau wurde auf der Hauptterrassenplatte betrieben. Ein guter Standort für die Einzelbrunnen der Höfe, die wegen des hohen Grundwasserspiegels und Austritts am Hang wohl ohne Dorf- oder Gemeinschaftsbrunnen auskamen und außerdem über Holz, Bruch und im Schnitt über ca. 30-40 Morgen(= 1 Hufe) Ackerland verfügten! Risiken bestanden sicher in der Eignung und Kultivierung der kiesigen und lehmigen, kalkarmen Böden der Terrassenplatte (d.i. „pseudovergleyte Parabraunerden“). Zunächst angebaut wurden wahrscheinlich Buchweizen und Dinkel. Siedlungsformen mit Kurzhufen entlang von Wasserläufen gelten gemeinhin als die älteren und wurden für die fränkischen Landnahme im Gegensatz zur römischen Besiedelung an den Straßen nachgewiesen.

Erbteilung

 

Mit der Pfarrgründung von 1258 ist unser Waldhufendorf aber wahrscheinlich schon gut ausgebaut und seine Vorgeschichte beendet. Mit der Erstarkung der Territorialherrschaften und ihrer Besitzverwaltung in Urkunden, Registern, etc. beginnt die aktenkundige, neuere Geschichte Lüttelforsts, die aber nunmehr mit der Geschichte der Pfarre und deren Verwaltung bis zur Franzosenzeit einhergeht. Jeder Interessierte kann hierzu das wertvolle Kirchenarchiv aufsuchen, das einen Schwerpunkt im Wirtschaftleben hat, das professionell geordnet, aber bis heute im Einzelnen nicht erschlossen und im Pfarrhaus in Waldniel provisorisch untergebracht ist.

In den Zeitläuften veränderte sich das Besitzgefüge durch Vererbung. Manche Hufe wurden erst längs „gesplisst“ unter Wahrung des Ganzen und dann aber auch quer geteilt, so dass sich das Bild einer mehr und mehr geteilten Hufenflur ergab.Nach dem preußischen Urkataster von 1826 sind einzelne zusammenhängende Hufe wie die des Herbertz- , Heissenhofes oder des Pastorats erkennbar. Die ab ca. 1700 vorherrschende sog. Realerbteilung am südlichen Niederrhein, wonach der Besitz unter allen Erben aufgeteilt wurde, setzte die Zersplitterung fort; so sind bis zu 132 Parzellen in einem ehemaligen Besitz aufgeführt.

Mit der Ansiedlung der Erben erfolgte eine Verdichtung der Bebauung, die den Dorfcharakter zumindest auf Höhe der Kirche nun deutlich hervortreten ließ.

wirtschaft-
liche Folgen

 

Der Fortgang der Realerbteilung hatte zur Folge, dass Klein- und Pachtbauern einen Nebenerwerb – meist im Flachsanbau und in der Flachsweberei oder -Spinnerei – suchen mussten. Aus der Ölfrucht des Flachs wurden durch die wasserbetriebenen Mühlen im Schwalmtal Leinöl als Rohstoff für Leinfarben sowie als Beleuchtungsmittel gewonnen.

Durch die Verbreitung von Baumwolle und Petroleum kam der Flachsanbau schließlich in eine Absatzkrise. Im Zeitalter einer industriell betriebenen Landwirtschaft wurden die Parzellen und Kleinstbesitzungen von Erbengemeinschaften wieder angekauft, zu Gewinn versprechenden Pachthöfen zusammengeschlossen und der Flachs- durch Roggen- und Kartoffel- oder später auch Zuckerrübenanbau ersetzt. In die gleiche Richtung wirkten später Flurbereinigungen.

Jetztzeit

 

Dennoch, bis Anfang der 1960er Jahre blieb das physiognomische Bild der alten Waldhufensiedlung nahezu intakt. Wegen der steilen Abbruchkante erfolgte eine Bebauung auf der anderen Straßenseite nur an flacheren Stellen. Und bis heute schützt dieses Relief Lüttelforst vor einer weitergehenden Zersiedlung. Nach 1945 setzte eine zunehmende Bebauung ein, zwischen 1945 -72 wurden 101(!) Neubauten errichtet; die meisten ab Mitte der 1960er Jahre, dem Einzug der großen Maschinen in die Landwirtschaft. Lüttelforst wuchs baulich und die alte Anlage der Reihensiedlung kam an ihre Grenze. Auf dem Besitz des ehemaligen Halfenhofes (Name geht  Ausgestaltung des Pachtvertrages zurück; ein Name für Pächter ist auch Halbwinner) gruppierten sich die Wohnhäuser der heutigen Buchenstraße als eigenständige Siedlung. Ein Trend, der anhielt, wie eine Fachreferat einer Schülergruppe aus dem Jahre 2002 feststellte: von insgesamt 111 untersuchten Gebäuden waren 38 zwischen 1970 und 2002 neu erbaut und 18 umgebaut worden, nur 3 stammten aus der Zeit zwischen 1945 und 1970. Nach 2002 sind bis heute noch 5 weitere Neubauten entstanden.

Darüber hinaus erhielten Gebäude mit ehemals landwirtschaftlicher Nutzung durch Umbau eine reine Wohnfunktion als Alterssitz oder infolge einer Erbübernahme. Die neuen Bewohner gingen nicht mehr einer landwirtschaftlichen Beschäftigung nach und verpachteten Land und Boden an überwiegend auswärtige Landwirte. Heute gibt es in Lüttelforst keinen Vollbauern mehr. Wie eine Befragung aus dem Jahr 1972 zeigte, waren damals bereits 48% der neue entstandenen Haushalte aus meist städtischen Ballungsgebieten zugezogen.

All diese Entwicklungen änderten mit dem Bild des Dorfes auch seine Sozialstruktur. Diese Wandlungen kann man unterschiedlich beurteilen. Wir wollen hier mit der skizzierten Geschichte eines Walhufendorfes am Niederrhein nicht vergangene Zeiten romantisieren, sondern wünschen damit Nachdenken und Respekt vor dem Erbe dieser Kulturlandschaft zu wecken!

Quellen, Literatur

  • Herlig Zschocke: Die Waldhufensiedlungen am linken Deutschen Niederrhein, Wiesbaden 1963 (Kölner Geopgraphische Arbeiten, Heft 16)
  • Jürgen Bähr und Winfried Golte: Wandlungen in einer niederrheinischen Waldhufensiedlung. In: Heimatbuch Viersen 25, 1974, S. 200-207
  • Facharbeit im Leistungskurs Erdkunde 2002/03 von B. Bonsels u. P. Korf; die Zahlen verdanken wir dieser Schülerarbeit
  • Georg Waldmann und Sigrid Schröder: Die Nordkanalniederung zwischen Kaarst und Schiefbahn, 2005